Sterbehilfe – wo stehe ich als Hausarzt?
Das ist die Geschichte von Walti S., den ich als Hausarzt in den Tod begleitete. Ich schob das Schreiben dieses Artikels unbewusst auf, weil ich vermutlich Angst davor hatte, zu viel Energie durch eine wiederkehrende Traurigkeit und Erschöpfung zu verlieren. Ich hatte auch keine Lust dazu, in diesen Sommertagen mit Fussball-WM, Aperitif und Grilladen mich dieser Erfahrung erneut auszusetzen. Doch dann bekam ich die Erinnerungsmail der Redaktion...
Die Geschichte von Walti S.
Ich hatte Walti S. im Rahmen der Praxisübernahme von meinem Vater vor 15 Jahren als Patient kennengelernt. Es war ein sympathischer, damals 62-jähriger Patient mit grosser Lebenserfahrung, ehemals Nachwuchstalent beim Fussballklub GC Zürich und später Chef eines Unternehmens im Finanzsektor. Ich betreute ihn über die letzten Jahre wegen eines gut eingestellten metabolischen Syndroms: Wir hatten alles im Griff.
Im August 2017 erschien Walti S. in der Sprechstunde wegen eines Hustens seit zwei Monaten. Im Röntgen-Thorax zeigte sich ein verdächtiger Rundherd im rechten Unterfeld, in der CT und Bronchoskopie bestätigte sich der Verdacht: Adeno-CA im rechten Unterlappen.
Von da an befand sich Walti S. in guter onkologischer Betreuung im Kantonsspital. Zuversichtlich ertrug er mit Unterstützung seiner Frau Susanne drei verschiedene Chemotherapien bis Ende 2017. Aber keine schlug an, der Tumor wurde grösser.
Vor Weihnachten besuchte ich Walti S. zu Hause. Er und Susanne freuten sich sehr über den Besuch. Beim Abschied nahm mich Walti beim Arm und sagte mir: «Gäll, du hilfsch mier denn scho, chönne z’gha, wenn ich nümme mag.» Auf jeden Fall, versicherte ich ihm und dachte dabei an eine grosszügige Aufdosierung mit Morphium.
Ende Januar besuchte ich Walti erneut. Gezeichnet von der Tumorkachexie, hustend und unter Atemnot leidend sagte er mir, er habe die aussichtslose Therapie im Spital abgebrochen. Susanne betreute ihn zu Hause heroisch. Er sei jetzt Mitglied bei EXIT, eröffnete er mir und ergänzte, dass am nächsten Tag jemand von EXIT vorbeikomme, um die weiteren Schritte zu besprechen. Ich verstand Walti voll und ganz und hätte in seiner Situation vermutlich das Gleiche getan.
Zwei Tage später erschien seine Frau Susanne in der Praxis und fragte, ob ich kurz Zeit hätte. Walti habe den ausdrücklichen Wunsch, dass ich ihn als sein Hausarzt in den Tod begleiten würde. Frau B. von EXIT würde diesen Wunsch auch begrüssen und es sehr schätzen, wenn ich die Infusion legen könnte. Ich sagte Susanne, dass dies prinzipiell möglich sei, aber ich noch schauen müsse, ob es organisatorisch möglich sei. Das war natürlich eine Ausrede, ich wollte Bedenkzeit gewinnen!
In dieser Phase kreisten mir ständig die folgenden Fragen im Kopf herum: Kann ich Walti diesen letzten Wunsch in seiner Situation abschlagen? Gehört diese aktive Sterbehilfe auch zum ärztlichen Handeln, zum hippokratischen Eid? Könnte ich diese Handlung mit meinem eigenen Glauben vereinbaren?
Ich kam zum Schluss: Ich konnte Waltis Wunsch nicht abschlagen – und sagte zu!
Das nächste Problem war allerdings, dass ich nicht wirklich geübt bin im Legen von Infusionen, vor allem nicht bei einem kachektischen, dehydrierten Patienten nach vielen Chemotherapien. Ich fragte deshalb meine geübte MPK, ob sie mich begleiten würde. Sie sagte zu, für diesen sympathischen Patienten würde sie dies tun.
Der Todestag
Dann war es so weit. Es regnet am Tag des geplanten EXIT-Sterberituals. Ich fühle mich mulmig und energielos. Ich hatte die Tage zuvor häufig an diesen Tag gedacht und bin sehr froh, dass meine MPK dabei ist. Wir klingeln, Susanne öffnet die Tür und stellt uns Frau B. von EXIT vor, eine warmherzige, ruhige Frau. Walti sei im Schlafzimmer. Wir sitzen um den Esstisch, eine Kerze brennt. Frau B. und Susanne, meine MPK und ich besprechen das Vorgehen. Dann gehen wir zu Walti. Er umarmt uns und weint vor Dankbarkeit und betont mehrmals, wie froh er sei, dass wir ihm helfen würden. Wir haben auch Tränen in den Augen, das Weinen zuvorderst.
Meine MPK redet Walti gut zu und legt währenddessen die Infusion. Sie macht dies ausgezeichnet. Die Infusion läuft, das Pentobarbital wird in die Infusion gegeben. Wir verabschieden uns von Walti und treten in die Diele. Susanne bleibt im Zimmer, während Walti den Infusionshahn aufdreht. Innerhalb einer Minute ist Walti eingeschlafen – und dann gestorben. Ich gehe nochmals hin, stelle den Tod fest.
Fünf Wochen später kommt Susanne in die Praxis und bringt vier Flaschen eines ausgezeichneten Weines. Die seien von Walti für uns bestimmt, dies habe er so gewünscht. Am Praxis-Sommeressen vor drei Wochen haben wir angestossen – auf Walti!